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Texte und Essays

" Wer ist Carl Barks", Helnwein, NEFF Verlag – 30. November 1992

"Und die Ente ist ein Mensch geworden"

"Und die Ente ist ein Mensch geworden"

von Gottfried Helnwein

Nachts war mein Kinderzimmer in ein tiefes rotes Licht getaucht- meine Spielsachen, die Möbel, mein Bett, meine Hände: alles hatte die gleiche Farbe und schien aus demselben weichen Material zu sein.
Als wären die Naturgesetze aufgehoben, schien alle Materie von innen heraus zu glühen. Die Ursache dieser roten Wundernächte war der riesige leuchtende Stern der Roten Armee auf dem Dach der Fabrik gegenüber, der nachts seine Glut in meine Kinderstube goss.
Die Tage hingegen waren grau, zäh wie Schleim und von grenzenloser Langeweile, alles erschien mir unwirklich und hässlich.

Es war das Wien der Nachkriegszeit, in dem ich aufgewachsen bin. Ich lebte mit meinen Eltern in Favoriten, einem traditionellen Wiener Arbeiterbezirk, der damals zur sowjetischen Besatzungszone gehörte. Das Haus, in dem wir wohnten, fristete ein kümmerliches Dasein zwischen einer Gießerei aus der Jahrhundertwende und einem grauen Monstrum von Fabrikanlage aus der Nazizeit, welches nun auf dem Dach das Zeichen seiner neuen Herren trug, eben jenen gewaltigen roten Stern.

In meiner Erinnerung ist alles rostig und staubig. Die Straßen waren wie ausgestorben, nichts bewegte sich, niemand sprach. Die wenigen Menschen, die ich sah, waren gedrungen, unförmig, gebeugt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals irgend jemanden singen gehört zu haben. Eine Welt, die still stand, ohne Geräusche, ohne Farbe, ohne Bewegung, nur manchmal durchbrochen vom Knattern eines klobigen Lastwagens der voll beladen mit russischen Soldaten mit Karacho durch die Straße fuhr. Dann war es wieder still.

Ich hatte das Gefühl, das höchste Ziel der Menschen um mich herum war, übersehen zu werden, nicht wahr genommen zu werden. Das einzige, was sie zu fürchten schien, war aufzufallen, entdeckt zu werden. Eine Stadt spielte toter Mann. Ich war ein Außerirdischer, der auf einem unbekannten Planeten gestrandet war und nun, nachdem sein Raumschiff explodiert war, keine Möglichkeit mehr hatte, hier wegzukommen. Ich musste durch den Aufprall nicht nur die Orientierung, sondern auch mein Gedächtnis verloren haben, denn ich hatte vergessen, wer ich war und woher ich gekommen war. Ich wusste nur eines mit Gewissheit, dass dies eine fremde Welt war, die mich nun unbarmherzig umschloss. Es war eine Welt, wie nach einem schlampigen Weltuntergang, wo eben doch ein paar überlebt hatten, die nun vorsichtig und geduckt in den Trümmern weiter dahin vegetierten, in der Hoffnung, der ewige Richter möge sie übersehen.

Ich dämmerte in dieser Schattenwelt wie im Valiumrausch dahin, bis eines Tages mein Vater vom Büro nach Hause kam, ein in braunes Papier eingeschlagenes Paket vor mich hinstellte und die Schnur, die es zusammen hielt, mit einem Taschenmesser durchtrennte.

Vor mir quoll die bunte Pracht der ersten deutschen Micky Maus Hefte auf den Parkettboden.

Als ich ein Heft öffnete, fühlte ich mich wie einer, der bei einem Grubenunglück verschüttet worden war und nach vielen tagen Finsternis wieder ans Tageslicht trat. Ich blitzelte, weil sich meine Augen noch nicht an das gleißende Licht der Sonne von Entenhausen gewöhnt hatten, und sog gierig die frische Briese, die vom Geldspeicher Dagobert Ducks herüberwehte, in meine staubigen Lungen.

Ich war wieder daheim, in einer vernünftigen Welt, in der man von Straßenwalzen plattgewalzt und von Kugeln durchlöchert werden konnte, ohne Schaden zu erleiden in einer Welt, in der die Menschen wieder anständig aussahen, mit gelben Schnäbeln oder schwarzen Knäufen als Nase. Und hier traf ich auch jenen Mann, der mein Leben verändern sollte von dem der österreichische Poet H. C .Artmann sagt, er sei der einzige Mensch, der uns heute noch etwas zu sagen habe: Donald Duck. Nach all den Jahren der Entbehrung jeglicher Kunst und Ästhetik hatte mich eine große Kultur umarmt.

Ich sah die sieben Städte von Cibola, wühlte mit Donald und seinen Neffen im funkelnden Geschmeide in den Schatzkammern versunkener Paläste. Es war mir ein Hochgenuss, mit dem alten Bankier Duck wie ein Seehund in dessen dreizehn Trilliarden hineinzuspringen, wie ein Maulwurf darin herumzuwühlen und die Taler in die Luft zu schmeißen, dass sie uns auf die Glatzen prasselten.

Beim Fähnlein Fieselschweif lernte ich die unschätzbaren Dienste des Pfadfinderhandbuches zu schätzen, wenn es galt, in Rekordzeit eine Notbrücke über eine Schlucht zu schlagen, einen Unhold in einem hohlen Baum aufzuspüren, oder ein kleines Mädchen zu retten, das hilflos auf einer Eisscholle auf einem tosenden Wasserfall zutrieb. Und nicht zuletzt der Umgang mit Leuten wie Schmu, Schubiak, Kasimir Keiler, dem haarigen Harry oder Sebastian Sandig( genannt der Wüstenwastel) schärfte mein Auge für die Einschätzung meiner Mitmenschen in jenen Jahren eignete ich mir die Menschenkenntnis an, die mich nie betrogen hat.

Walt Disney ist zweifellos das große Genie des 20. Jahrhunderts, ein reinkarnierter Leonardo da Vinchi, der reifer und größer wiedergekommen war, um das gewaltigste Gesamtkunstwerk aller Zeiten zu errichten. Sein ästhetisches Imperium hat das Antlitz dieser Welt verändert, für ihn ging der alte Künstlertraum in Erfüllung, der von ihm geschaffenen Kreatur Leben einzuhauchen, sie mit einer Stimme zu versehen und vor der ganzen Welt tanzen zu lassen.

Hunderte von Künstlern arbeiteten für den großen Inspirator, unter ihnen Salvador Dali, Aldus Huxley und Sergei Prokofjew.

Jährlich werden etwa dreihundert Millionen Disney- Comic- Hefte weltweit verkauft. Die Rieseninstallationen Disneyworld und Epcot- Center in Florida sind größer als alle Projekte Christos, die Pyramiden und Versailles zusammen, und vor allem lustiger. Die Popart eines Roy Lichtensteins und eines Andy Warhols ist lediglich der Widerschein diesen gewaltigen Flächenbrandes, dem sich kaum ein Künstler der zweiten Hälfte des Jahrhunderts entziehen konnte.

Wie bei allen großen Kulturepochen ist es aber das Zusammentreffen verschiedener Künstlerpersönlichkeiten, die so ein kreatives Spannungsfeld erst möglich machen. Der wichtigste Partner Walt Disneys ist ein der Öffentlichkeit bis heute weitgehend unbekannter, ohne den das Disneysche Mammutwerk auf tönernen Füßen stünde: der geniale Zeichner und Poet Carl Barks, der Schöpfer Entenhausens.

Die abendländische Kunst hat sich mehr als 2000 Jahre an der Ästhetik und dem Menschenbild der griechischen Klassik orientiert.

Picasso und Walt Disney haben sich gegen dieses Diktat aufgelehnt und mit diesem Menschenbild gebrochen- auf ganz unterschiedliche Art und Weise. Und in den Werkstätten Disneys konnte Carl Barks den neuen Idealtypus schaffen- das neue Menschenbild: Donald Duck. Donald ist die Ankündigung und Ahnung einer neuen Zeit. Er ist nicht mehr Abbild der sogenannten Realität oder eine weitere Imitation des griechischen Vorbildes sondern Schöpfung im eigentlichen Sinn des Wortes. Eine Creatio ex nihilo.

Seine Form ist aus dem Idealen geometrischen Prinzip der Kugel, abgeleitet. Es gibt keine Ecken und Kanten, alles an Donald ist rund und weich und fließend. Und obwohl er gar nicht aussieht wie ein Mensch, sondern eher an eine Ente erinnert, verkörpert er das Menschliche doch mehr als alle Werke der bildenden Kunst vor ihm.

Was ist an der Mona Lisa denn menschlich? Sie erinnert zwar äußerlich an eine weibliche Gestalt, aber bei aller malerischen Qualität hat sie so wenig mit einem wirklichen Menschen zu tun wie die Fleischberge an der Decke der sixtinischen Kapelle, die aussehen wie ein Haufen Rambos und von ähnlich tiefer Aussagekraft sind. Es ist erstaunlich, dass dieser kleine künstliche Erpel ein soviel besserer Spiegel der menschlichen Seele ist. An ihm erkennen wir unsere Ängste, unsere Unsicherheiten und Schwächen, unsere Dummheiten und Eitelkeiten, unsere Bosheiten, unseren Neid und unsere Einfalt. Aber auch jene Starrköpfigkeit, mit der wir nach jeder Niederlage, nach jedem Scheitern und nach jeder Katastrophe wieder aufstehen und neu beginnen.